"Unter der Zypresse"

Gegend, Handlung, Figuren: Ein wunderbar fein gezeichnetes Buch über Menschen, die sich verlieren und wiederfinden

Bewertung am 16.06.2023
Bewertet: Buch (Taschenbuch)

Bis nachts um 2 Uhr habe ich gespannt auf das Ende des Romans „hin gelesen“. Die Autorin ist eine Meisterin in der Nutzung von Adjektiven. Sie hat mich mitgenommen "unter ihre Zypresse". Warum: Die Natur rund um die Handlung wird hautnah beschrieben; man ist Teil der wunderschönen Gegend Südfrankreichs, hört die Grillen, sieht die Berge, riecht die genannten Parfums, schmeckt die Tartes... Die Beschreibung der Figuren ist ebenso fein austariert. Der Künstler Jan steht förmlich vor mir mit seinen grauen Wuschellocken, den kleinen Speckröllchen an den Hüften, ich sehe ihn in der Küche wie im Atelier. Hausmann und Künstler zugleich. Seine Frau Maja, Geschäftsrau, ist als 1A-Karrieristin wunderbar getroffen. Der Autorin gelingt es, sie trotz ihrer harschen Art facettenreich zu schildern. Das schwierige Zusammenspiel beider Figuren in der Krise zeigt eine Wirklichkeit, die sich jeden Tag, in jeder Stadt, fast jedem Land abspielen könnte. Es zeichnet sehr fein ein Paar mit Kindern, das sich auf dem langen Weg einer Partnerschaft verloren hat. Das Ende folgt nicht den üblichen Vorstellungen eines Happy Ends. Es macht aber am Ende happy. Wer eine feine, leise Geschichte über persönliche Entwicklungswege lesen möchte, ist hier richtig. Chapeau!

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„Wie schnell das Schicksal einem mit den Fingern ins Gesicht schnippte.“

Der Protagonist Jan de Vries ist verheiratet, Künstler und Hausmann, da seine Ehefrau den besseren Job hat und Karriere macht. Seine beiden Kinder sind fast erwachsen. Das Leben lebt sich so dahin. Die Gewohnheit hat sich zwischen den vier Wänden eingerichtet und die Spannung ist ein allzu seltener Gast.

Die Liebe hat sich am Alltag abgearbeitet und das künstlerische Schaffen von Jan verrieselt wie alte Farbe im Abfluss. Jan hat sich eingerichtet in diesem Leben und jedes ungute Gefühl wird unter den flauschigen Teppich gekehrt.

Das geht gut bis seine Welt erschüttert wird. Sein Leben gerät in Schieflage, rutscht ihm aus den Fingern und geht den Bach runter. Alle gefassten Pläne explodieren und das schön gezimmerte Dasein fliegt allen Beteiligten um die Ohren. Das Blindekuhspiel ist vorbei. Alles steht auf dem Prüfstand, wird gewogen und für zu leicht befunden. Doch jeder Neuanfang zieht auch die Ketten der Pflicht hinter sich her.

Die Autorin Ursel Schmid hat einen Roman über ein Leben im Umbruch geschrieben. Sie siedelt den Neubeginn ihres Protagonisten in Südfrankreich an. Die Beschreibung der atemberaubenden Landschaft lässt Wehmut zu und ein wenig Neid auf Jan de Vries. Das Gleichnis mit der Zypresse als kraftspendendes Rückgrat ist ein tolles Bild und zu Recht der Name des Buches mit dem schönen mediterranen Cover-Aquarell.

Lass Dich einfangen von der Geschichte, dem sanften Wind und der Landschaft Südfrankreichs.

Carola Quint, auf Instagram als @lesenmitcarola