Die gutgelaunte Stimmung verfliegt so abrupt, als hätte jemand auf der Tanzparty dem Player den Stecker herausgezogen. Die Karten liegen unberührt auf dem Tisch, Hände kneten verlegen die Haare, halten sich verkrampft am Weinglas fest oder reiben sich irritiert die Knöchel. Daniels Stimme hat eine Schneise in das ausgelassene Geschnatter geschlagen. „Verdammt nochmal, wir sind zum Spielen hier, könnt ihr endlich eure Diskussion über den neuen Film von Guy Ritchie beenden?“ Sein Blick schießt Pfeile in Richtung der Mädels, sein Mund ist ein gerader Strich. Vickys blaue Pupillen sprühen Funken, ihre Augenwinkel vertiefen sich. Sie prustet los und hält sich die Hand vor die Lippen. Nelly kneift die Augen zusammen und lässt ihre Gesichtszüge eisern gefrieren. Dann platzt es aus ihr heraus. Sie knufft Daniel in die Seite. „Komm schon, Alter, der Stock im A. steht dir nicht. Gib dir nen Ruck.“ Er schüttelt unwirsch den Kopf und grummelt. Laut auflachend schmeißt er seine Karten mit voller Kraft auf den Tisch. „Hattest ein exquisites Blatt, oder?“ Ich feixe und schaue auf die Herz Dame. Daniel schaut auf. „Was haltet ihr davon, wenn wir ins Kino gehen? Da läuft angeblich ein mega Film, ‚Bube Dame König GrAS‘“. Das freche Grinsen steht ihm.
© Ursel Schmid
Unsere Gesichter zucken unter dem Sandpeeling im Gegenwind. Wie Islandpferde im Sturm wartet die Herde Menschen im heftigen
Regenschauer auf die Ankunft ihres „Expeditionstrucks“. Kaum sind die ersten Schultern bis auf die Knochen durchnässt, pflügt das postgelbe Ungetüm durch den schweren Sand am Meer. Es sieht aus
wie ein halb offener amerikanischer Schulbus mit einer Schnauze wie ein überdimensionaler Tausendfüßler. Unsere Vorgruppe verlässt die Bänke des „Vliehors Express“ und spurtet widerwillig in
sämtliche Richtungen. Wir steigen als letzte die metallene Hühnerstiege hinauf, froh über Plätze an der
Luft. Wir rollen am wellenumtosten Meer entlang, gigantische Schaumflocken werden hochgewirbelt, es schaukelt gewaltig. Ziel ist der westlichste Zipfel der Insel Vlieland mit Blick auf den
Leuchtturm von Texel und eine Sammlung obskuren Strandguts. Dort erwartet uns nach
leutseliger Begleitung holländischer Schullieder durch einen alten Mann auf dem Akkordeon, lautstark von allen mitgesungen, eine stimmungsvolle Szenerie. Unendliche Weiten des Inselzipfels vor
einem blauschwarzen Himmel, der nur gelegentlich von blauen Fetzen durchzogen wird. In der Ferne steht auf dem windumtosten Strand ein riesiger Holzrahmen. Ich
erwarte ein Klavier auf dem Sand mit einer Frau im Rüschenkleid an den Tasten. Stattdessen pilgert ein Clan mittelalter Damen zum Rahmen und drapiert sich lauthals gackernd für ein Selfie mit
Stick. Amüsiert steigen wir wieder ein. Nach ruckelnder Rückfahrt mit Regenschwall durch die offene Konstruktion flutet die ganze Gruppe die Strandbar. Wie herrlich eine Chocomel mit slagroom und
appeltaart den geschundenen Körper besänftigt.
© Ursel Schmid
Mit zusammengekniffenen Augen liest sie die Mail und runzelt die Stirn. Jetzt überspannt er den Bogen bis kurz vor dem Zerreißen. Seit Wochen hält Sie sich nur mühselig zurück, ihm nicht eine Abmahnung anzudrohen wegen Impertinenz und ständiger Regelüberschreitungen. In seiner Enklave in Marokko wähnt er sich zu sicher und führt sich auf wie ein Großmogul. Dienstfahrräder für die Fahrten der Mitarbeiter zwischen Casablanca und Rabat, plus Djellabahs als Dienstkleidung. Als wen die alle so sportlich wären. Ökologisch nicht uninteressant. Aber der spinnt doch. Sie richtet sich auf, klickt auf antworten: „Herr Werner, ich habe Sie für einen vernunftbegabten Menschen gehalten. Wie Sie sich vorstellen können, haben wir keinerlei Budget für ihre aktuellen Hirngespinste. Außerdem warte ich immer auf Ihr Konzept ... .“ Das Telefon unterbricht ihren galligen Schreibfluss. Sie fährt sich entnervt durch die kurzen Haare und nippt am kalt gewordenen Kräutertee. „Frau Feldmann, der Chef will Sie heute sprechen, ginge 15 Uhr?“ Sie schaut schnell in ihren Kalender, Freitag erster April. Der Nachmittag sieht frei aus. „Jenny, Sie können zusagen.“ Sie legt auf und stutzt. Liest die Mail aus Casablanca nochmal. Sie grinst, löscht ihre Antwort, und greift zum Hörer.
© Ursel Schmid
Er lag auf dem Bauch. Der Arzt hatte ihm eine Beruhigungsspritze verpasst und versorgte die Wunde am empfindlichsten Teil seines Körpers. Der Schock hatte sich tief in ihn eingegraben, er war aschfahl. Er hörte es in seiner Wohnung rumoren. Kurz schloss er die Lider, dann erfasste er den erwartungsvollen Blick des Polizeibeamten. „Es war total dunkel. Ich war aus wilden Träumen aufgeschreckt, knipste die Lampe am Bett an, aber nichts tat sich. Offenbar ein Stromausfall. Unsicher tapste ich aus dem Schlafzimmer und grübelte, wo ich Kerzen oder eine Taschenlampe finden würde. Auf dem Weg fischte ich mein Handy vom Regal. Meine Blase drückte von Abendbier. Ich beschloss, auf die gegenüberliegende Toilette zu gehen. Ich bin Sitzpinkler, das hat mir meine Ex antrainiert. Langsam tastete ich mich zum Klo, hob den Deckel und setzte mich. Erleichtert entleerte ich meine Blase, als ich den gewaltigen Biss in meinen Hintern spürte. Ich sprang wie von der Tarantel gestochen hoch, was mich da biss konnte ich nicht erkennen. Instinktiv klappte ich den Deckel runter, schloss die Toilettentür und rief den Notruf. Sie kamen sofort. Hier liege ich nun. Was haben Sie denn herausgekriegt?“ Der Polizist schaute mit einer Mischung aus Ernst und Belustigung auf ihn herab. „Kennen Sie Ihren Nachbarn?“ „Flüchtig, wieso, was hat der mit meinem Klo zu tun?“ Der Beamte hielt inne. „Er hält elf Schlangen, große und kleine, er vermisst einen Python. Der ist durch die Rohre aus seiner Wohnung ausgebüchst.“ Dem Mann auf der Bahre schwanden die Sinne.
© Ursel Schmid
Der kleine Bub schaute mit großen Augen durch die Küchentür in die gute Stube. Das Wohnzimmer war gefüllt mit Damen, dicke und dünne, alte und junge. Die Mutter hatte zum Kaffeetrinken eingeladen, der Tisch war mit der feinen weißen Damast-Tischdecke geschmückt, die bei solchen Festivitäten aus der Biedermeierkommode hervorgezaubert wurde. Darauf stand säuberlich angeordnet das hauchfeine Kaffeegeschirr, dekoriert mit silbernen Kerzenleuchtern und Blumen. Geschäftig klapperten die Tassen auf ihren Untertellern, das junge Hausmädchen Maria bewegte sich eilfertig um die Damen herum, die sich zwischen ihren Kuchenhappen lebhaft unterhielten. Das brodelnde Gewirr füllte sein fünfjähriges Gehirn wie Brei, er hörte nur nichtssagendes Gebrabbel. Er war damit beschäftigt zu prüfen, wie die leckeren Bissen Sahnetorte in den sich öffnenden Mündern mit all den blitzend weißen oder bräunlich verfärbten und krummen Zahnreihen verschwanden.
Den ganzen Vormittag war schon geschäftiges Treiben im Haus und insbesondere in der Küche. Gewaltige Ladungen Kuchen wurden gebacken. Am meisten faszinierte ihn aber die Produktion der Sahnetorten. Zartschmelzend standen sie vor ihm, sobald die Köchin mit ihrer Kunst fertig war. So eine gleißende Verheißung und süße Verlockung, diese Zauberwerke mit Schokolade und Obst dekoriert, sie erstrahlten in den schönsten Farben und Formen. Ihm rann der Speichel im Mund zusammen, seine Lust auf dieses zuckrige Naschwerk schien ins immense anzuwachsen.
„Du kriegst ein Stück Sahnetorte, wenn die Damen etwas übriglassen“, hatte Mutter versprochen. Er liebte sie, diese Schönheit mit den pechschwarzen langen Haaren, zu einem Knoten hochgebunden. Ihre tiefschwarzen Augen im elfenbeinfarbenen Teint blickten ihn liebevoll an. Er war glücklich. Es gab ja reichlich Naschwerk, was sollte da schiefgehen. Brav hatte er sich sein Festgewand zum Vorzeigen bei der Gesellschaft anziehen lassen, obgleich er damit wie ein ausstaffiertes Püppchen aussah. Das missfiel ihm, es machte ihn schon zum Äffchen. Aber sei es drum, was gab man nicht alles für ein Stück Sahnetorte.
„Junge, Du stehst im Weg“, fuhr ihn die Hausdame an. Sie war damit beschäftigt, alles im Blick zu behalten, um das Serviermädchen einzuteilen und auf Trab zu halten. Die Damen waren anspruchsvoll. Das schuldete sie ihrer Herrschaft, die sie immer gut behandelte.
„Setz Dich mal auf die Bank hier am Herd, Du kriegst schon noch Kuchen, da bin ich sicher“.
Nichts, rein gar nichts hatte sie verstanden. Kuchen gab es genug. Aber Sahnetorte. Es musste dieses cremige Prachtwerk sein, das war sein einziger Traum. Skeptisch betrachtete er die restlichen Kuchenplatten. Die Streuselstücke und Marmorkuchen fanden nicht den reißenden Absatz, aber die Cremetorte reduzierte sich in bedrohlichem Maße.
Stirnrunzelnd lugte er wieder aus der Tür, das konnte nicht wahr sein. Die Kristallplatte mit der letzten Sahnetorte wurde in das Wohnzimmer getragen, gebannt verfolge er ihren Weg. Als hätten sie nicht schon genug in sich hineingestopft, lächelten einige Damen die Serviererin freundlich an und winkten sie zu sich. „Nein, bitte nicht!“ flüsterte er. Das war doch nicht die Möglichkeit.
Drei, zwei, dann nur noch ein Stück. Eine ältere Dame in einem marineblauen Kleid mit weißem Kragen winkte huldvoll, und Maria lief mit der Platte auf sie zu. „Das sieht ja köstlich aus, das nehme ich doch gerne“. Der gewaltige Busen unter dem gestärkten Ausschnitt wogte gefährlich, das Doppelkinn wackelte wie Pudding, und die goldberingte Hand nahm genüsslich das letzte Stück Torte entgegen. Die Frau Konsul zückte ihre Gabel, und schon verschwand der erste Bissen der Köstlichkeit in ihrem gewaltigen Mund. Angewidert starrte er auf das Spektakel. Wie er sie hasste. Dafür, dass sie sein Stück Torte verdrückte, die fette Kuh. Das war seins. Mutter hatte es ihm versprochen. Der unglaubliche Groll, den er in sich verspürte, musste sich entladen, sofort. Mit zusammengekniffenen Augen brummte er: „Dann friss doch, bis Du platzt!“
© Ursel Schmid